Sängerfeste im Baltikum
Im Jahr 1988 waren auch im Baltikum Glasnost und Perestroika angekommen. Hoffnung keimte auf und erstmals hörte man die alten patriotischen estnischen Lieder auf dem Sängerfeld. Diese Bewegung schwappte bald nach Lettland und Litauen über. Sie wuchs schnell und wurde schon beim Sängerfest 1990 zum Beginn der „Singenden Revolution“, die nun ganz offen die Freiheit und Loslösung von der Sowjetunion verlangte. Nur ein Jahr weiter hatten die singenden Esten, Letten und Litauer – aus drei zahlenmäßig so kleinen Ländern – der großen Sowjetunion die Unabhängigkeit abgetrotzt.
Es war diese „Singende Revolution“ in den Baltenrepubliken, die im Jahr 1989 durch die berührenden Fernsehbilder der friedlich singenden 650 km langen Menschenkette von Vilnius über Riga bis Tallinn im westlichen Europa auch die große sängerische Tradition dieser Völker bekannt machte. Und es war auch die Kraft dieser Lieder, die drei Völker in die Freiheit führten. Seit diese Länder ihre Souveränität erlangten, werden wieder regelmäßig große Sängerfeste gefeiert, bei denen Hunderttausende das spezielle estnische, lettische und litauische Liedgut pflegen. Doch entstanden diese Sängerfeste nicht erst mit der friedlichen Revolution in den drei bald wieder neu erstandenen Nationalstaaten, sie haben schon eine lange Tradition.
Ursprung und Entstehung der baltischen Sängerfeste
Liederfeste, die estnisch laulupidu, lettisch dziesmu svētki und litauisch dainų šventė genannt werden, finden in allen drei Baltenrepubliken statt. Die Gesangstradition im Baltikum ist alt und tief verwurzelt in den Kulturen der drei Länder. Erste Gesangsvereine nach dem Vorbild der deutschen Liedertafeln gründeten Deutschbalten und führten in Riga schon 1836 ein erstes Sängerfest durch, im Jahr 1857 auch in Tallinn. Erste estnische Sängertreffen fanden ab 1855 statt und der erste estnische Gesangsverein wurde 1863 gegründet.
Begründet wurde die Tradition der großen Sänger- und Liederfeste im Jahr 1869, als in Dorpat (Tartu) das erste estnische Liederfest stattfand. Rasch schwappte die Welle in die baltischen Nachbarländer über. Schon 1873 folgte in Lettland das erste Allgemeine lettische Liederfest. In Litauen fand das erste nationale Liederfest nach der Unabhängigkeit von 1918 im Jahr 1924 statt. Nach dem litauischen Aufstand von 1863 hatte die zaristische Verwaltung alle Bestrebungen zur kulturellen Eigenständigkeit brutal unterdrückt.
Sängerfeste und Gesangstraditionen in Estland
Gesungen wurde in Estland schon, als man noch keine Schrift hatte, um die Lieder aufzuzeichnen, sie wurden mündlich überliefert. Es handelte sich meisten um die „Regilaulud“, die traditionellen estnischen Reigenlieder. Nach der Reformation wurden viele geistliche Lieder von Pastoren ins Estnische übersetzt, auch estnische Neukompositionen entstanden vermehrt. Erster estnischer Chorgesang ist erstmals 1828 in Laiuse erwähnt.
Erste Gesangsvereine gehen auf die Tradition deutschbaltischen Liedertafeln zurück, erster 1849 registrierter Gesangsverein war der „Revaler Verein für Männergesang“. Im Jahr 1863 folgte der erste in estnischer Sprache singende Gesangsverein „Revalia“, der anfangs noch das Problem hatte, dass für Chöre zu wenig Liedgut in estnischer Sprache zur Verfügung stand.
Das erste große Liederfest in Tallinn fand 1857 statt. Es hatte das Rigaer Liederfest von 1836 zum Vorbild. Daran orientierten sich weite estnische Liederfeste, die Zeit des nationalen Erwachens der Esten hatte begonnen. Als im Jahr 1865 die beiden am Erwachen eines Nationalgefühls orientierten Gesangsvereine „Estonia“ und „Varemuine“ gegründet wurden, entstand eine eigene estnische Chortradition. Die beiden Chöre hatten einen großen Einfluss und galten bald landesweit als Vorbilder für weitere Chorbildungen. Regionale Chortreffen fanden so mit Hunderten von Teilnehmern in Andeküla und Johvi 1865 sowie in Uulu 1867 statt.
Das erste estnisches Liederfest und seine Bedeutung
Der große Spiritus Rector der estnischen Liederfeste war der estnische Journalist und Publizist Johann Voldemar Jannsen (1819-1890), der große Volksliedsammlungen herausgab und einer der wichtigsten Köpfe des nationalen Erwachens der Esten war. Als Vorsitzender des Vereins „Vanemuine“ beantragte er bei den damals in Estland herrschenden russischen Behörden des Zarenreichs die Genehmigung für ein estnisches Liederfest - Man hatte 1867 geschickt einen Anlass gewählt, der auf keine Widerstände traf: Der 50. Jahrestag der Abschaffung der Leibeigenschaft in Livland. Nach einigem Hin und Herr fand das Liederfest dann 1869 in Tartu statt. Rund 850 Sänger sowie 15.000 Zuhörer nahmen am ersten Liederfest teil. Es gab nur Männerchöre, singende Frauen waren erst beim dritten Liederfest 1881 zugelassen. Auch wenn damals nur zwei Lieder in estnischer Sprache erlaubt wurden, war damit die Tradition begründet.
Gesang und Sängerfeste in Litauen und Lettland
Das erste estnische Liederfest sowie das Erwachen und Erstarken des estnischen Nationalbewusstseins sind untrennbar miteinander verbunden und hatten eine große Ausstrahlung auf das benachbarte Lettland. Dort begann die Tradition der Sängerfeste mit dem ersten Liederfest im Jahr 1873. In Litauen dauerte es länger, dort gab es, so lange Litauen zum Zarenreich gehörte, ob des Aufstands von 1863 keine Chance für eine Genehmigung. Als Litauen 1918 die Souveränität erlangte, wurden das litauische Liedgut und die Sängerfeste gleichfalls ein wichtiger Teil der Schaffung einer litauischen Nationalidentität.
Die Letten und ihre Lieder
In der lettischen Geschichte waren die mündlich überlieferten Lieder immer Trost und Halt für die Letten, auch in schweren Zeiten. Sie waren identitätsstiftend und hielten die lettische Kultur und Sprache auch in Zeiten staatlicher Nichtexistenz und Unterdrückung am Leben. In den Liedern wurden die Geschichte Lettlands, seine Traditionen und Bräuche weitergegeben. Eine besondere Rolle spielten die Lieder im Widerstand gegen die Sowjetunion während der „Singenden Revolution“. Jedes neue Liederfest spiegelt das wieder und die Freude darüber, die lettischen Traditionen wieder frei leben zu können. So sind die lettischen Lieder- und Tanzfeste die größten Festtage des Jahres in Lettland, für die man sich als Lette selbstverständlich in Tracht und als lettische Frau dazu mit einem Blumenkranz zeigt.
Die Zahl der verschiedenen bis heute archivierten Lieder (Dainas) in Lettland ist unglaublich: sie beläuft sich auf fast zwei Millionen, so kommt auf jeden Letten ein Lied. Den Grundstein dieser Liedersammlung legte Krišjanis Barons mit seinen über 200.000 Dainas, die auch bewiesen, dass es eine eigenständige lettische Kultur gab, was von den die Region dominierenden Baltendeutschen stets bestritten worden war. So wurden die Lieder bald zur Grundlage des lettischen Nationalbewusstseins. Seit 1873 finden die Liederfeste in Lettland alle fünf Jahre statt.
Litauens Sangestraditionen und Liederfeste
In Litauen begann die Tradition der Liederfeste also erst 1924. Beim ersten Liederfest nahmen in der damaligen Hauptstadt Kaunas 86 Chöre sowie 3.000 Sänger und Tänzer teil. Dainos werden die litauischen Volkslieder genannt, deren Zahl man heute auf rund 400.000 schätzt. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und unterscheiden sich von Dorf zu Dorf und von Region zu Region. Allen gemeinsam ist die Form einer lyrischen Erzählweise mit vielen Diminutiven (Verkleinerungsformen), die durchweg innig und sanft wirken. Goethe bezeichnete die litauischen Dainos einst als „in Schmerz gehüllt“. Themen sind oft das Leben in und mit der Natur, Familie, Herz und Schmerz. Auch viele Themen der Mythologie kommen vor.
Besonders schön sind die „Sutartinės“ aus dem Nordosten Litauens, ein mehrstimmiger Frauengesang. Als weltweit einmaliges Liedgut wurden sie 2008 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Sie seien tief in der Gesellschaft verwurzelt, werden von Generation zu Generation weitergegeben und gäben den Sängern und Hörern ein Identitäts- und Kontinuitätsgefühl, lautete die Begründung. Seit dem ersten Liederfest 1924 wurden die großen Sängerfeste in Litauen bereits 17 Mal abgehalten.
Die heutigen Sängerfeste im Baltikum
Im Jahr 2003 erkannte die UNESCO die Lieder- und Tanzfeste in den drei baltischen Ländern als Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Kulturerbes der Menschheit an und nahm sie 2008 in die Liste des immateriellen kulturellen Welterbes auf. Das unterstreicht die einmalige Bedeutung dieser Traditionsfeste.
Die großen Sängerfeste im Baltikum finden alle 5 Jahre statt. Längst sind sie nicht mehr nur die größten Feste für die Esten, Letten und Litauer, auch Touristen haben diese einmalige Atmosphäre voller Frieden und Freude für sich entdeckt. Und längst sind auch tolle Rahmenprogramme für die ausländischen Gäste entwickelt worden. Jeder Reisende wird rasch entdecken, dass die Balten sehr gastfreundliche Völker sind, die sich freuen, ihre reiche Kultur den Gästen zu zeigen. Eine Reise nach Estland, Lettland oder Litauen zu einem der Liederfeste ist garantiert ein unvergessliches Erlebnis. Beim letzten Liederfest in Tallinn im Jahr 2019 traten 33.000 Sänger vor mehr als 120.000 Zuschauern auf. Der traditionelle gemeinsame Chor bestand sage und schreibe aus 25.000 Sängern.
Die nächsten Sängerfeste im Baltikum:
- 3. bis 6. Juli 2025 in Tallinn
- Juli 2028 in Riga
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